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Die Tafeln im Kontext des sozialstaatlichen Umbaus in Deutschland – ein Gastbeitrag von Lukas Drögemeier (M.A.)

© Lukas Drögemeier, M.A.

Seit Mitte der 1970er Jahre findet in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein Umbau der nationalen Wohlfahrtsstaaten statt. Meist folgt dieser Umbau den Prinzipien des so genannten „Aktivierungsparadigmas“, welches den Fokus von der Fürsorge auf die Vorsorge verschiebt. Die Idee ist also, Armut in erster Linie nicht durch passive Leistungen, sondern durch eine Erhöhung der Beschäftigungsrate und die Förderung von Weiterbildungen zu bekämpfen. Durch den gesamtwirtschaftlichen Zuwachs an arbeitenden Personen soll dabei gleichzeitig auch noch die Wirtschaft angekurbelt werden.

Im deutschen Kontext wurde die Idee der Aktivierung unter Anderem in Form der „Hartz-Gesetze“, allerdings auch durch einen Ausbau der verfügbaren Kita-Plätze umgesetzt. Kritiker bemängeln dabei, dass viele der Reformen durch den Ausbau des Niedriglohnsektors und die Kürzung von Sozialleistungen vor allen Dingen die Stellung sozial Bedürftiger verschlechterte. Um die entstandene Lücke zu füllen und dem Rückzug des Staates zu begegnen wurde dabei vor allen Dingen in der deutschen Debatte auf die Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements verwiesen.

Eines der wohl prominentesten Beispiele für ehrenamtliche Arbeit in Deutschland sind die Tafeln, welche 1993 mit dem Ziel gegründet wurden Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen. Während es im Jahr 2000 „nur“ 260 Tafeln in Deutschland gab – Zweigstellen nicht mit eingerechnet – stieg diese Zahl bis 2007 um fast 300% auf 753 an. Im Jahr 2016 wurden 925 Tafeln in Deutschland verzeichnet (Grafik 1). Insgesamt tragen die Einrichtungen durch die Bereitstellung passiver Quasi-Sozialleistungen zur Armutsreduktion bei und übernehmen somit fürsorgende Funktionen, die der deutsche Sozialstaat laut seinen Kritikern insbesondere seit den Hartz-Reformen nicht mehr genügend übernimmt.

Kritische Würdigung der Tafel-Arbeit

Die Idee eines vorsorgenden Sozialstaates, der die Probleme antizipiert und proaktiv agiert, statt einfach nur zu reagieren, ist verheißungsvoll, allerdings zuweilen etwas fernab der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nicht alle Bürgerinnen und Bürger haben die Chancen, beziehungsweise können oder wollen die Chance wahrnehmen, sich immer weiter fortzubilden. Auch ist etwa nicht jede/r räumlich oder berufstechnisch so flexibel, wie dies im Rahmen der deutschen Sozialstaatsreform vorgesehen ist.
Der Ausbau aktivierender Leistungen zulasten passiver Transferleistungen hat deshalb zu einer Ausweitung der Armut in Deutschland geführt, die – entgegen der Hoffnungen der

Reformerinnen und Reformer – nicht durch zusätzliche Beschäftigungseffekte aufgefangen wurde. Stattdessen scheint Erwerbsarbeit in Deutschland nicht (mehr) zwingend armutsvermeidende Wirkung zu besitzen (Grafik 2). Diese Vernachlässigung der staatlichen Fürsorgepflicht zugunsten eines idealisierten Vorsorgecredos ist nur möglich, da ehrenamtliche Helferinnen und Helfer die Fürsorgepflicht des Staates stützten und fehlende staatliche Leistungen substituieren. Die Tafeln sind hierfür ein Beispiel par excellence: Durch die Ausgabe von Nahrungsmitteln helfen sie einkommensschwachen Menschen, kostengünstig an Lebensmittel zu gelangen und so bei ihren Lebensmittelausgaben zu sparen. Dass – wie oben dargelegt – der starke Anstieg der Tafeln in Deutschland dabei zeitlich mit dem Umbau des deutschen Sozialsystems zusammenfällt, dürfte nur schwerlich als Zufall zu interpretieren sein.

Neben der impliziten Stützung – und damit Aufrechterhaltung – eines seinen Funktionen nicht mehr vollständig gerecht werdenden Sozialstaats sind die Tafeln mit einem zweiten Problem behaftet: Auf Grund ihrer Struktur können sie Armut nicht verhindern, sondern nur lindern – und operieren dabei stets in einer prekären Situation. Da die Tafeln für die Verpflegung der Kundinnen und Kunden auf Spenden angewiesen sind, verfügen sie erstens nicht über genügend Ressourcen. Meist ist von einer Produktkategorie zu wenig vorhanden, während es von anderen zu viel gibt. Zweitens ist die Handlungsgrundlage der Tafeln immer gefährdet. Sie funktioniert so lange, wie sich genügend Menschen engagieren und genügend Lebensmittel in den Läden übrigbleiben. Ein Überfluss an materiellen Kapazitäten sowie Helferinnen und Helfer kann aber nicht dauerhaft vorausgesetzt werden. Sollte die Verfügbarkeit einer dieser beiden „Variablen“ der Tafeln zurückgehen, steigt die Not der von Armut betroffenen Menschen in Deutschland zwangsläufig noch mehr an, da die Tafeln (fehlende) staatliche Aufgaben nicht mehr auffangen können.

Fazit

Die Arbeit der Tafeln ist wichtig. In den letzten Jahren ist jedoch zu ihrem ursprünglichen Ziel, die Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung, eine zunehmende Substitution der staatlichen Fürsorgepflicht hinzugekommen. Um diese Rolle ausfüllen zu können, besitzen sie jedoch weder die Kapazitäten noch die Möglichkeit, verlässlich genug mit ihren Ressourcen zu planen.
 

Das hier vorgestellte Essay wurde von Lukas Drögemeier verfasst. Es entstand im Sommersemester 2018 im Rahmen der Lehrveranstaltung „Bürgerschaftliches Engagement/Ehrenamtliche Tätigkeit“ an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Im Rahmen der Veranstaltung bekamen die Studierenden durch Referenten der Tafel detaillierte Einblicke in die Tafel-Arbeit sowie die Möglichkeit, selber in einer Ausgabestelle tätig zu werden.

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